Lippitz in Ostpreußen. - Die Flucht
Tagebuchnotizen
von Hans-Joachim v. Egan-Krieger
herausgegeben
und kommentiert von
Wolter
v. Egan-Krieger
ISBN 978-3-8370-6656-2
140
Seiten mit Abbildungen
in SW und Farbe
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Das Jahr 1945 beginnt wenig
verheißungsvoll für die Bewohner
Ostpreußens.
Während auf russischer Seite Vorbereitungen für eine Großoffensive
getroffen werden, verharrt man auf deutscher Seite hilflos im Vertrauen
auf eine angekündigte Wunderwaffe, die jeder feindlichen Aktion den
Garaus machen soll. Am 22. Januar 1945 spitzt sich die Lage für
Lippitz/Kreis Mohrungen
dramatisch zu: Die russische Offensive stößt mit derartiger Wucht in
Richtung Ostsee, daß kaum noch Zeit für eine Flucht bleibt. Innerhalb
weniger Tage wird Ostpreußen vom übrigen Teil des Deutschen Reiches
abgeriegelt: Für die meisten Flüchtlinge eine Falle, der nur noch auf
dem Seeweg zu entkommen ist.
Mit Kommentierungen und Ergänzungen versehen, schildern die
Tagebuchaufzeichnungen des Gutsbesitzers und Treckführers von Lippitz,
Hans-Joachim v. Egan-Krieger, ein wochenlanges Bangen um das
Gelingen der Flucht vor der herannahenden russischen Front, das
Versagen von Parteidienststellen, und die Auflösungserscheinungen der
deutschen Wehrmacht.
Hier ein Leseauszug vom Beginn der
Flucht:
... Zunächst hatten wir die Absicht,
um Mitternacht zu fahren. Als das
Geschieße etwas nachließ, sich zumindest nicht verschärfte, wartete ich
bis zum
allgemeinen Aufbruch am nächsten Morgen, da ich der irrigen Meinung
war, im
Treck der ganzen Siedlung auf mehr gegenseitige Hilfe rechnen zu
können. Wir
wußten damals noch nicht, daß wir künftig todeinsam auf uns selbst
angewiesen
waren, daß sich die meisten gewohnten Bande allen
Menschheitszusammenlebens weitgehend
gelöst hatten.
Da, wo wir gerade saßen, - die Kinder
lagen angekleidet auf Betten, -
ruhten wir bis zum Morgengrauen. –
Wir
Kinder wurden nachts unsanft aus dem Schlaf gerissen. Das Bild ist mir
noch gegenwärtig.
Ich erinnere mich, daß ich hastig angekleidet werde, mir ein Pullover
übergestreift
wird, und daß ich mich in meiner Schlaftrunkenheit wehre: Nicht weil
die
Ankleideprozedur ungewohnt grob verläuft, sondern weil dieser Pullover
auf der
nackten Haut unangenehm kratzt und sticht.
Nicht
genug damit: Gleich mehrere Schichten Kleidung werden mir
übereinandergestreift
– für alle Fälle und zur Reserve. Wie mir meine Mutter später erklärt,
bestand
diese Kriegsware nur zum Teil aus Wolle, um so mehr jedoch aus
Beimischungen, sogenannten
„Ersatztextilien“. Wie dem auch sei: Sehr schnell begreife ich, daß in
dieser
Nacht jeglicher Widerstand zwecklos ist. Ebenso vergeblich bitte ich um
Mitnahme mir besonders liebgewordener Spielsachen. Nur das Nötigste
darf mit.
Auf
der Strecke bleibt auch das Kinderbett für meine gut einjährige
Schwester. Kaum
auf dem Wagen muß es schon wieder herunter, - in letzter Sekunde. Man
nimmt
sich nicht mehr die Zeit, um es zurück ins Haus zu schaffen. Als
makabres
Zeugnis unseres überstürzten Aufbruchs wird es die künftigen Besucher
empfangen, vor dem Haus zwischen den großen Eichen abgestellt, frisch
bezogen und sofort benutzbar.
Für
die Beteiligten ist diese gespenstische Kulisse kaum wahrnehmbar.
Weniger
deshalb, weil sie in jenen Stunden keinen Blick für so etwas haben: Es
ist
schließlich eine stockdunkle, nur durch Funzeln spärlich erhellte
Nacht, in der
sich das alles abspielt, und daran ändert sich nichts bis zum Aufbruch.
Erst
das Tageslicht wird die groteske Szenerie in vollem Glanz erscheinen
lassen,
und noch manches andere, was verstreut umherliegt und versehentlich
zurückgeblieben
ist. Die Akteure werden dann bereits fehlen. Das neue Publikum wird
selber Hand
anlegen müssen.
Eine
letzte Maßnahme noch: In aller Eile hat man die wertvollsten
Möbelstücke
zusammengestellt und in den Keller des Hauses geschafft. Die Tür gut
verschlossen.
Der Ordnung halber. Und zur Sicherheit. Damit Unbefugten nicht gleich
alles von
Wert in die Hände fällt. So ganz endgültig will man es doch nicht wahr
haben.
Man weiß ja nicht ...? –
Unsere
„Auffangstation Lippitz“, ausersehen als Zufluchtsort für den
Korklacker Treck,
stellt ab sofort unbegrenzt Räumlichkeiten zur Verfügung; den Betrieb
hat sie
dagegen eingestellt.
Nicht
einmal ein ordnungsgemäßes Abmelden ist möglich. Vergeblich alle Mühe,
noch
eine Leitung zu bekommen. Die Telefonverbindung zu Korklack besteht
nicht mehr.
–
22.
Januar: 0600 Uhr früh.
Aufbruch von Lippitz. Reihenfolge: Gummiwagen mit
Konstantin Luferow als Fahrer. Darauf Familien v. Egan [v. E.
oder v.
E.-K.],
Frfr. v. Campenhausen [meine Großmutter väterlicherseits], Frau
Schwaarck [meine Großmutter mütterlicherseits], Frfr. v. Halkett [meine
Großtante], Liese Brosowski, Henny
Ruda (Polin), Frau Jorde, Elfriede
Klein,
Heinz Jorde, Frau Wegner mit 2 Kindern, Frau Wohlann. Zusammen 18
Personen und
der Fahrer. Pferde: Hinten links Petra, rechts Lieschen, vorn Amazone
und ein
Russenpferd.
Gig [leichter
Einspänner] mit einem Russenpferd.
Wechselnd besetzt.
Leichter Flüchtlingsleiterwagen mit
Sachar als Fahrer. Insassen:
Familie Kasper/Steppuhn, Frau Daus mit 1Kind, Ehepaar Knieriem.
Zusammen 8 Personen.
Pferde: Die "Kossacks" (Russen).
Schwerer Leiterwagen, Fahrer Gaston
Falques.
Futterwagen 2 Pferde, 1 davon "die"
Fuchs aus Korklack. Dann
Ochsenwagen mit Russengepäck.
Endlose Fahrt bis Miswalde infolge
überladener und liegenbleibender
Wagen. Nachmittags erst Chaussee bei Miswalde erreicht. Pascha nicht
mit, muß
erst in Kolteney geholt werden. Schwierige Passage des Miswalder Berges
mit gegenseitigem Vorspann. Der
Lippitzer Siedlungstreck reißt dabei völlig auseinander.
Weiterfahrt am Nachmittag nach
Reichenbach. Ochsenwagen bleibt ab,
wahrscheinlich schon in Geisseln oder Rossitten. Reichenbach von
Militär und
Flüchtlingen überfüllt. Quartier in einem leeren Haus an der Straße.
Nachts die
Nachricht, daß russ. Panzerspitzen 10 km südlich Saalfeld.
Es
sind zwei Treck-Kolonnen gebildet worden: Der Lippitzer Siedlertreck
unter
Führung des Bürgermeisters Demsky und Ortsbauernführer Steinke, und der
Lippitzer Gutstreck, geleitet von meinem Vater. Geplant ist, beide
Kolonnen
nach Möglichkeit zusammenzuhalten.
Der
Lippitzer Guts-Treck besteht aus 5 Fuhrwerken mit knapp 40 zu
befördernden
Personen. Nur unser Gummiwagen ist für längere Fahrstrecken ausgelegt;
Gefahr
für Achsen- oder Radbruch besteht kaum, dafür sind Reifenpannen
möglich. Mit
„modernem Bremssystem“ versehen, das vom Kutschbock aus zu bedienen
ist, läßt
er sich auch im bergigen Gelände bewegen, ohne Menschen und Pferde am
Abhang in
Gefahr zu bringen.
Wie
das bei anderen Fahrzeugen aussieht, läßt sich denken. Binnen kurzem
wird die
Treckstrecke von Fahrzeugwracks gesäumt sein, so die allgemeine
Befürchtung.
Doch es hilft nichts. Niemand ist auf einen derartig überstürzten
Aufbruch
vorbereitet.
Die
personenbefördernden Wagen sind zum Schutz von Regen und Schnee mit
einem
Giebeldach versehen, das mit Dachpappe notdürftig abgedichtet ist.
Hinten mit
einem Vorhang versehen und nach vorne hin geschlossen, so stellt sich
unser Gummiwagen
dar. Sicht gibt es nur durch ein kleines Fenster nach vorn zu den
Pferden. Der
Kutscher sitzt im Freien und ist damit dem Wetter schutzlos
ausgeliefert. Eine
Verständigung zwischen Kutscher und Insassen ist möglich.
Bewußt
hat mein Vater auf den Traktor verzichtet. Vieles wäre einfacher
gewesen ohne
Pferdegespanne, allein der knappe Treibstoff zwingt dazu, ihn
zurückzulassen.
Unterwegs wird man nicht nachtanken können. –
Unser
reichlich überbelegter Wagen nimmt noch unsere Pfarrfrau aus Liebwalde
mit ihrer
Tochter auf. Das geht wohl nur deshalb, weil mein Vater zunächst auf
dem
Einspänner mitfährt, später dann reitet und seinen Platz auf dem Wagen
nicht
beansprucht. Man rückt noch enger zusammen auf dem Stroh oder richtet
sich auf
Gepäckstücken ein. Mutter und Tochter (Lotte und Margret Kiesow)
verlassen uns
aber bald und werden von anderen aufgenommen, die schneller sind als
unser
Troß. Später treffen wir sie nochmals kurz.
Gleich
zu Beginn der Flucht läßt uns der strapaziöse Anstieg am Miswalder Berg
einen
Vorgeschmack auf das Bevorstehende zukommen. Schneeglatte Straße,
quergestellte
Fluchtwagen, die zur Seite geschoben werden müssen, um die Fahrbahn
frei zu
bekommen. Unsere Pferdegespanne bleiben zwar nicht am Hang stecken.
Dafür
helfen wir anderen durch Vorlegen. Ein mühseliges kräftezehrendes Vor-
und
Umspannen beginnt. Mit vereinten Pferdekräften werden die kritischen
Bereiche
überwunden. Es ist eine Wissenschaft für sich, die vielen Pferde
gleichzeitig
zu maximaler Kraftanstrengung zu bringen. Doch das beherrscht mein
Vater; das
Auseinanderreißen beider Lippitzer Treck-Kolonnen kann er jedoch nicht
verhindern.
Schlimmer noch: Auch die Verbindung zur Treckführung des
Siedlungstrecks reißt
ab.
Zu
allem Überfluß hat unser Gummiwagen hier seine erste „Platte“, was aber
leicht
behoben wird, wie mein Vater anmerkt.
Das
Bild der schier endlosen Treckschlange am Miswalder Berg ist mir noch
in
Erinnerung. Auch die Pferderücken, wie sie lang werden beim Anziehen,
die
faszinierende Faltenbildung an den Keulen infolge der
Muskelanspannung. All
das werde ich noch oft beobachten können, und es wird nichts von seinem
Reiz verlieren.
Nicht
erinnerlich ist mir, daß Pascha, unser Neufundländerrüde, so
unmittelbar nach
dem Aufbruch bereits abhanden kommt. Bezeugt wird von verschiedener
Seite, daß
er zurückgelaufen sei.
Da
mein Vater sehr an dem Hund hängt, leiht er sich kurzerhand ein Fahrrad
und radelt
zurück. Noch ist die Strecke zu bewältigen. Weit sind wir nicht
gekommen.
Er
findet das Tier sitzend auf unserer Giebeltreppe, um lieber in der
ungewohnten
Stille unser verlassenes Haus zu bewachen. Erstmals muß er an die Leine.
Nicht
nur dem Hund scheint die hektische Aktivität dieser Stunden
unerträglich. Auch
unsere russischen Begleiter Boris und Simon suchen nach einer
Gelegenheit, dem
Chaos zu entfliehen, erinnern sich des zurückgelassenen Viehs und
bitten,
nochmals nachschauen zu dürfen. Was sie dort tatsächlich wollen, bleibt
unklar.
Man hat die Kühe vor unserer Abfahrt gemolken und frei in unserem
großen Stall
zusammengetrieben, mit reichlich Futter versehen und eingesperrt. Mehr
konnte
man nicht tun.
Eigentlich
sind die Russen vorschriftwidrig bei uns. Viehfütterer, so hieß es in
der
Räumungsanweisung, hätten beim Gut zu bleiben, um weiterhin das Vieh zu
versorgen. Mein Vater schenkte dem keine weitere Beachtung. Jetzt
allerdings
geht er auf ihre Bitte ein. Er läßt die beiden Russen ziehen, nachdem
er ihnen
anhand einer Karte den voraussichtlichen weiteren Fluchtweg erläutert
hat. Es
könnte schwierig und langwierig werden, uns wiederzufinden.
Querbeet
machen sie sich auf den Weg. Sie erreichen den Hof auch, wie wir später
erfahren werden, und verrichten, was sie für ihre Pflicht halten.
Unseren Treck
verfehlen sie jedoch, - falls sie den Rückweg jemals angetreten haben
sollten.
Ungeklärt
bleibt auch das Schicksal der von Hand mitgeführten Fohlen und des
Ochsenwagens
samt seiner Insassen. Gelenkt vom Russen Nicolai oder dem Ukrainer
Stephan
befinden sich darauf die russischen Flüchtlinge, drei Frauen und drei
Kinder.
Dieses
Gefährt hat schon von Anbeginn der Flucht keine großen Aussichten, den
Anschluß
an die Kolonne zu halten. Aufgrund der Gemächlichkeit seiner Zugtiere
und deren
mangelhaftem Durchhaltevermögen ist das Abbleiben vorauszusehen. Den
Miswalder Anstieg schaffen sie noch, und das scheint schon wie ein
Wunder. Es
ist kein auf Rädern rollendes Gefährt, das sie ziehen, sondern es
gleitet auf
Kufen. Der festgefahrene Schneebelag auf der Straße macht es möglich.
Nur
bei akutem Pferdemangel wurden die Ochsen noch herangezogen, für kurze
Fahrten
auf die Felder, berichtet meine Mutter. Sie waren einfach „verbraucht“,
und
liefen sich schnell blutig.
Pferdemangel
herrschte auch jetzt, und so benötigte man sie wiederum. Ein
allerletztes Mal.
–
Irgendwo
sind sie abgeblieben. Ihre im Schnee gezogene Spur verliert sich im
Nirgendwo.
Ein erster Verlust an Menschen und Tieren.
Später
erwägt mein Vater, nochmals zum Gut zurückzureiten. Unterwegs fällt
einem stets
etwas ein, was man hätte mitnehmen müssen. Dabei will er sich auf die
Suche
nach dem Ochsenwagen machen. So rasch darf man keinen der Gemeinschaft
verloren
geben.
Das
Risiko, sich zu verlieren, ist jetzt groß. Dichtes Schneetreiben sorgt
nicht
nur für eingeschränkte Sichtverhältnisse; auch die innerhalb kürzester
Zeit
gebildete Neuschneedecke macht den Weg und die Marschdauer
unberechenbar.
Viele, die es dennoch versuchen, werden nicht mehr zurückfinden.
Erst
auf inständiges Bitten meiner Mutter nimmt mein Vater Abstand von dem
Vorhaben.
Die chaotischen Verhältnisse lassen es ohnehin nicht mehr zu.
Zurückflutende
Wehrmacht bringt den Verkehr zeitweise völlig zum Erliegen, Soldaten
bestätigen
das offenbar unaufhaltsame Nähern der Front, so daß man sich nur für
wenige Stunden
Ruhe gönnen wird.
23.
Januar: 0300 Uhr
morgens Aufbruch. Weiterfahrt Richtung Schönfeld, nachdem Ausfahrt aus
Gehöft
in Reichenbach nur mit vorgehaltener Pistole gegen flüchtendes Militär
erzwungen. Temperatur milder, aber Schneetreiben. Bei Marwita Abdrehen
des
Lippitzer Gutstrecks (ohne Ochsenwagen, der unbekannt abgeblieben),
durch
Straßenpolizei auf Neu-Dollstadt/Augustwalde ...
Einige Lippitzer Siedler folgen oder sind bereits
vor uns. Ich habe ungefragt die Führung. An einem geräumten kl.
Bauernhof in
Stühmswalde machen wir Mittagsrast. Zeitweise fahren wir ... allein,
aber bald wieder in dichten Kolonnen. Wir ergänzen unsere Vorräte,
können uns
auch Milch melken. Vieh steht in den Ställen, teilweise füttern wir es.
Dann
geht es weiter. Ab Neu-Dollstadt sind die Höfe noch besetzt ...
Abends wird mit stark ermüdeten Pferden und
Menschen Eschenhorst erreicht. Die Brücken von Marienburg und Dirschau
sollen
gesprengt sein. Das Gerücht bewahrheitet sich später nicht ...
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